Man kann mit 50 auch noch wachsen

Man kann mit 50 auch noch wachsen

Das klingt zuerst mal kaum verständlich, es ist jedoch Ausdruck einer neuen Technik. Die in den 70er und 80er Jahren, vor allen in Russland entwickelte wurde - die so genannte Distraktionsosteogenese.

Was hat man sich nun hierunter vorzustellen?

An allen Knochen des menschlichen Körpers tritt nach einem Bruch eine Knochenheilung ein. Eine der ersten Phasen dieser Knochenheilung ist die Bildung eines so genannten Callus. Callus entsteht aus Blut und Substanzen die vom Körper abgesondert werden und eine neue Knochenbildung anregen. Am Anfang ist dieser Callus noch sehr weich, dass ist auch der Grund warum z. B. ein Arm, ein Bein oder auch ein Kiefer in der Heilungsphase ruhig gestellt wird. Der Callus ist verbiegbar. Wird also ein Knochen zu früh belastet, kommt es zu Verformungen. Ein Bein wird schief, ein Kiefer krumm oder ein gesamtes Gesicht asymmetrisch. Dieses Phänomen aber, d. h. die Verformbarkeit des Callus, hat man sich nun in den 70er und 80er Jahren zu nutze gemacht um eine neue Technik zu entwickeln mit der man Knochen wachsen lassen kann. Am Anfang setzte man diese Technik vor allen Dingen an den Extremitäten also z. B. den Beinen ein, um Menschen größer werden zu lassen oder aber vor allen Dingen um ein kürzeres Bein dem langen anderem Bein anzupassen. Als Professor Ilizarov 1988 in Houston, in der University of Texas, einen Vortrag zu diesem Thema hielt und Bilder von den herausragenden Ergebnissen zeigte, die er mit seinen Distraktoren erreicht hatte (teilweise Beinverlängerungen von mehr als 15 cm), war auch ich genauso wie die anderen Zuhörer nicht 100 % überzeugt von dieser Technik. Es war damals noch die Endphase des kalten Krieges und so richtig konnte man sich nicht vorstellen dass in einem wissenschaftlich nicht so weit entwickelten Land wie Russland eine derartige Technik entwickelt worden sein könnte. Auch das Erscheinungsbild von Prof. Ilizarov, mit der in Russland typischen kochmützenartigen OP-Haube, trug vielleicht dazu bei, unsere Bedenken stärker werden zu lassen.

Nachdem man sich aber weltweit mit dieser Technik zunehmend beschäftige, stellte man fest, "nein das geht tatsächlich". So wird um den Frakturspalt am gebrochenen Knochen ein Gerät angebracht was sich dann langsam auseinander bewegt und dann den Kiefer, das Mittelgesicht oder aber auch Extremitäten auseinander zieht und auf dieser Art und Weise zu einer Knochenneubildung anregt. Meine ersten Anregungen dieser Technik auch am Gesichtsschädel anzuwenden, stießen Ende der 80er Jahre noch auf große Bedenken und es war schließlich der NYU Professor Joe McCarthy der diese Technik mit seinem Team erstmals am Gesichtsschädel einsetzte. Seit dem ist die Technik immer weiter verfeinert worden und es gelingt mittlerweile die meisten angeborenen Kiefer- oder Mittelgesichtsunterentwicklungen noch während der Wachstumsphase durch eine Distraktion auszugleichen. Dieses erspart den Kindern die oft psychisch stark belastenden Hänseleien in der Schule oder im Kindergarten, ein Distraktor wird also z. B. auf einem zu kleinen Unterkiefer bei einem Franceschettisyndrom vom Mund her aber auch von außen angebracht und der Knochen gleichzeitig in diesem Bereich durchtrennt. Dann beginnt man nach Callusbildung (ca. 7-10 Tagen) das Gerät langsam auseinander zu drehen. Auf diese Art und Weise wächst dann der Kiefer recht schnell. Nach einer Stabilisierungsphase von wenigen Monaten kann dann der Distraktor wieder entfernt werden und der Kiefer hat seine normale Größe erreicht.

Es gilt also wirklich: " Wachstum ist immer möglich". Diese Techniken im Gesichtsschädelbereich sollten sie aber unbedingt nur von einem entsprechend geschulten Facharzt für Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie anwenden lassen. Mit dieser Distraktionstechnik gelingt es auch z. B. den Knochen wachsen zu lassen in den später einmal Implantate eingebracht werden. Natürlich birgt jede Operation Risiken, auch diese. In der Hand eines entsprechend ausgebildeten Facharztes stellt sie aber heute ein Routineverfahren dar, das als wesentlicher Bestandteil der Kiefer- und Gesichtschirurgie aus unseren OP-Plänen nicht mehr wegzudenken ist.